Eigentlich war ich auf dem Weg, ein Star zu werden – jetzt arbeite ich in der Altenpflege. Die Arbeit ist sehr hart. Oft muss ich um 5 Uhr aufstehen, dabei bin ich ein Nachtmensch. Ich erfahre erst am Anfang der Woche, ob ich in Bornheim, Offenbach, Hanau oder sonst wo eingesetzt werde. Ich liebe alte Menschen, aber es tut mir weh, sie in so unwürdigen Situationen zu sehen. Letztes Jahr versorgte ich eine alte Dame mit einer Hautkrankheit – ihre Haut löste sich auf. Das Bild verfolgt mich bis heute.
Mein Make Up ist von Chanel, mein Lieblingsparfum ist Libre von Yves Saint Laurent. Ich will Glamour – und Glamour ist teuer. Vor allem aber brauche ich mein Gehalt, um meine Familie zu unterstützen. Meine Mutter und meine drei Schwestern haben genetisch bedingten Brustkrebs. Ich mache Überstunden, um die Chemotherapie und Medikamente für meine Mutter zu bezahlen.
Ich heiße Wassim und komme ursprünglich aus einem Land, in dem Homosexualität verboten ist. Arbeiten musste ich schon als Kind. Mit sechs Jahren verkaufte ich zusammen mit meinem Vater für Cent-Beträge Tee auf dem Markt. Später half ich ihm beim Reparieren von Elektrogeräten. Über die Schule kam ich zu einer Theatergruppe und entdeckte mein Talent für das Schauspiel. Dann wurde ich über ein Casting für eine Comedy-TV-Show engagiert.
In meinem Land war ich ein bekannter Comedian und vom Staat anerkannter Künstler. Ich hatte viele Auftritte im öffentlichen Fernsehen, bin sogar zur besten Sendezeit bei großen Familienshows aufgetreten. Als Künstler durfte ich auch meine weibliche Seite ausleben und in Frauenrollen auftreten. Ich lebte meinen Traum. Dann aber begann die Presse, mich zu attackieren. „Wassim spielt nicht nur weibliche Rollen, er ist tatsächlich homosexuell“, schrieben sie. Die gleichen muslimischen Familien, die mich vorher im Fernsehen bewundert hatten, fanden mich plötzlich ekelhaft. Die Fernsehsender und meine Kunden zogen ihre Aufträge zurück.
Ich hasse engstirnige Denkweisen. Auch finde ich, Religionen sollten Privatsache bleiben. Ich respektiere alle Religionen und glaube auch, dass es einen Ingenieur oder Schöpfer gibt, der dieses Universum voller Wunder erschaffen hat. Aber ich glaube nicht an einen Gott, der mich aufgrund meiner Homosexualität tot sehen möchte.
Vor meiner Flucht habe ich allein in einer geräumigen Wohnung mit Balkon gewohnt und dort neben meinem Beruf französische Literatur studiert. Ich hatte viele gute Freunde. Meistens trafen wir uns bei mir oder bei ihnen zu Hause. Wenn wir ausgingen, hat uns das Taxi immer direkt vor der Tür abgeholt. Auf die Straße zu gehen, war für mich sehr gefährlich, selbst wenn ich nur ein Wasser am Kiosk holen wollte. Natürlich ging ich immer ungeschminkt und in unauffälliger Kleidung raus, sonst hätte ich mein Leben riskiert. Durch meine weibliche Art fiel ich trotzdem auf, wurde beleidigt, bespuckt oder sogar zusammengeschlagen. Es gab auch Erlebnisse, an die ich mich nie mehr erinnern möchte. Außerdem drohten mir und meinen Freunden Geld- und Gefängnisstrafen. Im April 2018 verließ ich mein Land.
Ich merkte schnell, dass es auch in Deutschland keine grenzenlose Freiheit gibt.
In meiner ersten Unterkunft in Gießen habe ich mir meine Fingernägel in Regenbogenfarben lackiert und bin rausgegangen. Zwar guckten viele Leute komisch, aber es war nicht verboten. Leider merkte ich schnell, dass es auch in Deutschland keine grenzenlose Freiheit gibt. Drei Mal wurde ich in Frankfurt auf offener Straße zusammengeschlagen. Junge Männer… sie kamen in Gruppen, zu viert oder fünft. Ich erstattete nach jedem Vorfall Anzeige, einige der Täter wurden bestraft. Wir müssen immer kämpfen. Kämpfen wofür? Für Menschlichkeit?
In den ersten Monaten habe ich mich in Deutschland sehr verloren gefühlt. Alles war so anders – die Sprache, die Kultur, die Gesetze. Ich fühlte mich wie ein Kind, das alles neu erlernen musste. Dann traf ich die Rainbow Refugees. Die Menschen dort waren sehr freundlich und sind mir mit Liebe begegnet. Sie begleiteten mich bei wichtigen Terminen und halfen mir auch, die tausend Briefe der deutschen Ämter zu beantworten. Dank ihnen fühlte ich mich weniger allein und hatte schließlich die Kraft, eine Arbeit zu finden und meine Zukunft zu gestalten. Meine Unabhängigkeit ist mir sehr wichtig!
Ich habe lange genug in einem Gefängnis gelebt.
Ich möchte nicht über meine Sexualität definiert werden. Das finde ich schlimm! Wieso werde ich ständig nach meiner Sexualität gefragt? Ich frage dich ja auch nicht, was du im Bett treibst. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Ich möchte als Mensch wahrgenommen werden.
Viele LGBTs leben in einer Bubble und gehen fast nur an queere Orte, an denen sie sich sicher fühlen. Aber ich habe doch nicht meine Heimat verlassen, um mich hier wieder einzuschränken. Schließlich habe ich Deutschland nicht zufällig gewählt. Es ist ein demokratischer Staat, die Menschen können hier frei leben und sich frei bewegen. Warum sollte ich nur an „sichere“ Orte gehen? Ich will mit Minirock, High Heels und knallroten Lippen durch die Stadt laufen. Ich möchte viele Orte kennenlernen, alles ausprobieren, alles erleben. Ich habe lange genug in einem großen Gefängnis gelebt. Das Gefängnis war mein Land.
Mein wichtigstes Ziel ist es, den europäischen Pass zu bekommen. Es wäre wie ein Sieg über mein altes Leben. Dann würde ich mit einem Koffer voller Geschenke für meine Mutter in meine alte Heimat reisen – als Tourist!
Heimat ist nicht der Ort, an dem du geboren bist. Heimat ist der Ort, an dem du dich wie ein Mensch fühlst.
(Stand: Oktober 23)
Autorin: Nadia Saadi