„Asylverfahren könnten bald nicht mehr möglich sein.“

Knud Wechterstein

Knud Wechterstein ist Landeskoordinator des Rainbow Refugee Support, eines Beratungsprojektes für queere Geflüchtete der Aidshilfe Hessen. Nach dem Flüchtlingsstrom im Jahr 2015 erkannte er schnell, in welcher besonderen Gefahr LGBT-Geflüchtete auch in Deutschland schwebten – dank ihm und anderen Engagierten wurden die Rainbow Refugees überhaupt erst gegründet. Für sein langjähriges Engagement wurde er 2023 vom Hessischen Sozialministerium als Mensch des Respekts ausgezeichnet. Im Interview erzählt er, inwiefern LGBT-Geflüchtete besonders kämpfen müssen, warum er ihre Lebensleistung oft bewundert und welche Rolle er bei den Rainbow Stories übernimmt.

Du engagierst dich jetzt seit 2015 Jahren für Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität ihr Heimatland verlassen mussten. Wie fing alles an?

Knud Wechterstein: Im Herbst 2015 habe ich mich mit einigen engagierten Menschen aus der LGBT-Community zusammengetan. Wir machten uns Gedanken über die Situation von geflüchteten Menschen, die queer sind. So entstanden die Rainbow Refugees, zunächst als Verein. Ich finde immer noch, dass wir ein tolles Beispiel dafür sind, wie die LGBT-Community zusammenstehen kann, um Menschen in Not effizient zu unterstützen. Als wir begannen, fiel uns schnell auf, dass geflüchtete Menschen, die queer sind, eine besonders schutzbedürftige Zielgruppe sind, die oft stark diskriminiert werden. Da hat damals niemand hingeschaut.

Warum sind queere Geflüchtete besonders schutzbedürftig?

Knud Wechterstein: Es fing mit der Unterbringung an. Dort erlebten queere Menschen verbale Angriffe, sexuelle Übergriffe, Messerattacken und Morddrohungen. Sobald in den Unterkünften aufflog, dass jemand homosexuell, bisexuell oder trans ist, schwebte dieser Mensch in großer Gefahr. Auch wurden queere Geflüchtete massiv ausgegrenzt. Etwa wurde ihnen der Zugang zur Küche versperrt – oder sie durften die Duschen nicht benutzen, weil sie als „unsauber“ diffamiert wurden. Das Schlimme war: Diese Erlebnisse hatten auch großen Einfluss auf ihre Asylverfahren…

Inwiefern hatte diese Unterbringung Einfluss auf das Asylverfahren?

Knud Wechterstein: Eine solche Unterbringung führt natürlich dazu, dass Menschen, die queer sind, sich weiter verstecken, wenn sie in Deutschland sind. Homosexualität und auch Transidentität sind schon seit 1988 anerkannte Fluchtgründe. Das Problem ist aber: Die Fluchtgründe müssen in den Anhörungen nachvollziehbar dargelegt werden. Das heißt ein Mensch, der beispielsweise in seinem Land aufgrund seiner Homosexualität in Lebensgefahr schwebte, muss bei seiner Anhörung Erlebnisse und Erfahrungen, die im Zusammenhang mit seiner sexuellen Orientierung stehen, glaubhaft schildern.
Dazu waren diese Menschen aber nicht mehr fähig. Nach ihren traumatischen Erfahrungen in den Unterkünften fehlte ihnen schlicht das Vertrauen, dass Deutschland ein Land ist, in dem sie offen über ihren Fluchtgrund sprechen können.

Zudem gab es auch Dolmetscher, die ihnen durch ihre diskriminierende Wortwahl das Gefühl gaben, über etwas moralisch Verwerfliches zu sprechen und dass sie mit dem Vorbringen ihrer „schmutzigen“ Geschichte niemals Anrecht auf Asyl haben würden. Kurz: Viele Asylanträge von queeren Menschen wurden abgelehnt, weil die Person sich nicht mehr traute, offen über den Fluchtgrund zu sprechen. So fanden wir bei den Rainbow Refugees schnell die Kerngebiete unserer Aufgaben: Sichere Unterbringung und Hilfe in den Asylverfahren.

Was sind eure größten Erfolge?

Knud Wechterstein: An erster Stelle stand für uns anfangs die sichere Unterbringung der Menschen. Hier erreichten wir, dass es für queere Geflüchtete in den Hessischen Erstaufnahmen einen gesonderten Schutzbereich mit eigenen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gibt. 2018 eröffneten wir – mit tatkräftiger Unterstützung des Sozialdezernats und der Stabsstelle Flüchtlingsmanagement der Stadt Frankfurt – das erste Safe House in Hessen, eine Unterkunft für LGBT-Geflüchtete.

Ein weiterer Pfeiler unserer Arbeit ist die Beratung: Wir bereiten die Rainbow Refugees auf ihre Anhörung vor und achten darauf, dass sie unter fairen Voraussetzungen stattfindet.
Um das zu gewährleisten, beantragen wir beim Bundesamt im Vorfeld, dass speziell geschulte Mitarbeiter*innen die Anhörung durchführen. Ich selbst bin seit 2022 als Referent an den Schulungen des BAMF beteiligt. Außerdem begleiten wir die Menschen persönlich in die Anhörungen – das empfinden sie meist als wertvolle mentale Stütze.

Würdest du sagen: Queere Organisationen wie die Rainbow Refugees ermöglichen überhaupt erst faire Asylverfahren für LGBTs?

Knud Wechterstein: Auf jeden Fall. Wir erleben immer wieder, dass die Menschen sich zuerst an queere Organisationen wenden, weil sie davon ausgehen, dass sie hier vorurteilsfrei ihre Geschichten erzählen können und verstanden werden. Auch deshalb spielen wir eine wichtige Rolle. Oft müssen wir erst die Voraussetzungen schaffen, damit Menschen in der Lage sind, ihre Erlebnisse zu schildern. Queere Organisationen müssen unbedingt mit einbezogen werden, um faire Verfahren überhaupt zu ermöglichen.

Wir erleben gerade einen extremen Rechtsruck in Deutschland. Wie siehst du die geplanten Einschränkungen des Asylrechts?

Knud Wechterstein: Ich stelle die Reform der Asylverfahren komplett infrage. Ich bin davon überzeugt, dass Asylverfahren so wie sie ursprünglich gedacht waren – um Menschen in Not Schutz zu gewähren – nicht mehr möglich sein werden. Mein Eindruck ist, dass die Politik Asylverfahren zunehmend einschränken will – um sie letztendlich abzuschaffen. In Teilen wird das nicht nur von der AfD geäußert. Die jüngsten Entwicklungen erfüllen mich mit Sorge.

Was befürchtest Du konkret?

Knud Wechterstein: 2023 hat die europäische Kommission bestätigt, dass die Asylverfahren in der EU im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) neu geregelt werden sollen. Ab 2026 soll ein großer Teil der Antragstellenden ihre Asylverfahren in eigens dafür eingerichteten Zentren an den Außengrenzen Europas, sprich Italien, Griechenland, Spanien durchlaufen. Und dies in einem hohen Tempo von 12 Wochen. In diesen 12 Wochen sollen die Menschen ihre Anhörungen haben, den Bescheid bekommen, bei Ablehnungen ins Klageverfahren gehen und – sofern sie nicht erfolgreich sind – rückgeführt werden. Natürlich wird es queeren Gefürchteten in diesem sehr schnellen Verfahren kaum gelingen, ihr Recht auf Asyl zu erhalten. Vor allem, wenn die Verfahren in einem homophoben Umfeld stattfinden. Sicher werden Geflüchtete in ihren Unterkünften dort körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt ausgesetzt sein. Aber keiner wird hingucken. Die Chancen, dass sie ein faires Verfahren bekommen, sind sehr gering. Es ist auch sehr fraglich, dass wir NGOs – deren wichtige Rolle ich bewusst ausführlich erläutert habe – großen Einfluss bekommen. Meine Prognose ist: Die von uns hier erreichten Erfolge werden sich in den neuen Erstaufnahmelagern in Luft auflösen.

Du hast viele Menschen begleitet, die nun ein eigenständiges und erfolgreiches Leben in Deutschland führen. Wie schaffen sie das?

Knud Wechterstein: Ich bin selbst beeindruckt, wie es ihnen gelingt – trotz aller Widrigkeiten – so viel aus ihrem Leben zu machen. Sicherlich liegt es auch daran, dass sie in Deutschland weniger Energie darauf verwenden müssen, ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zu verstecken. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, führt dazu, dass großartige Lebensgeschichten und Lebensleistungen entstehen.

Ich denke beispielsweise an einen jungen Mann, der sich schon 2016 an die Rainbow Refugees wendete. Vorher hatte er länger in Italien gelebt, war obdachlos und verkaufte Rosen. Hier in Deutschland macht er drei Jobs – sortierte Pakete, kellnerte und arbeitete als Reinigungskraft. Neulich traf ich ihn wieder. Er sagte zu mir: „Ich habe jetzt genug Geld gespart. Wie kann ich in Deutschland eine Firma gründen?“ Diese Zähigkeit und den Willen sehe ich nicht nur bei ihm.

Du wurdest 2023 von der hessischen Landesregierung als „Mensch des Respekts“ ausgezeichnet. Wie hast Du das empfunden?

Knud Wechterstein: Ein Mitarbeiter des Hessischen Sozialministeriums rief mich an und überbrachte mir die schöne Nachricht. Ich wusste erst nicht damit umzugehen, denn mein erster Gedanke war, dass viele andere Menschen an unseren Erfolgen beteiligt sind. Aber natürlich freue ich mich über diese großartige Auszeichnung, die das Thema auch insgesamt aufwertet und an die Öffentlichkeit bringt.

Welche Rolle übernimmst du bei den Rainbow Stories?

Knud Wechterstein: Nadia Saadi und Frank Pauli, das Gründerteam, fragten mich, ob ich die Buchmesse Events der Rainbow Stories unterstützen könne. Insbesondere bei der inhaltlichen Gestaltung – in der Rolle eines Consultants oder Kurators.  Da ich die Initiative absolut unterstützenswert finde, helfe ich gerne.

Die Grundidee ist, Geschichten von einzelnen Rainbow Refugees festzuhalten. Insgesamt finde ich es wahnsinnig wichtig, dass solche Rainbow Stories festgehalten werden und – auch im Rahmen von Veranstaltungen – stärker in die Öffentlichkeit kommen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass queere Menschen in vielen Ländern dieser Welt unter ständiger Lebensgefahr leben, manchmal auch unabhängig von der Gesetzeslage. Aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität werden sie in ihren Heimatländern gelyncht – nicht selten von der eigenen Familie.

Durch Kojins Rainbow Story habe ich das erste Mal in vollem Umfang gespürt, wie brutal der Hass gegenüber queeren Menschen sein kann. Es gibt eine Szene in seinem Dokumentarfilm, der im irakischen Kurdistan gedreht wurde, die mir noch im Detail vor Augen ist: Kojin sitzt unter einem Baum auf einem abgelegenen Feld – und trifft dort irakisch-kurdische Männer mit unterschiedlichem Hintergrund zu einem Gespräch über das Thema Homosexualität. Der Hass der Männer äußert sich unverhohlen. Diese Situation, die hier von der Kamera festgehalten wurde, ist sicher einzigartig. Einer sagte ganz offen: In meinem Clan würde man solche Leute lebendig begraben. Fast hatte ich das Gefühl, als wäre ich selbst in dieser Situation und dachte – jetzt kannst du jederzeit umgebracht werden.

Autorin: Nadia Saadi

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